Fortbildungen und Fachbeiträge
Corona und Bindung
Corona und Bindung
Verständnismöglichkeiten und Handlungsimpulse für Erziehende, Lehrende und Personen in der Frühförderung
Ein Beitrag von Dipl.-Psych. Sibylle Stumpf, Mitarbeiterin im Sonderpädagogischen Beratungszentrum, SBBZ Luise von Baden, Neckargemünd
Im Frühjahr 2020 verändert sich durch die Ausbreitung des Coronavirus das Leben der Menschen auf der gesamten Welt auf eine nie zuvor dagewesene Weise. Wie in zahlreichen anderen Ländern auch kommt es in Deutschland im März 2020 zu Maßnahmen des sogenannten „Social Distancing”, wie sie die Menschen bisher nicht kannten: Schulen, Kindertageseinrichtungen und Einrichtungen der Frühförderung schließen landesweit, unzählige Restaurants, aber auch Geschäfte und Firmen (Arbeitgeber vieler Eltern!) müssen ihre Arbeit einstellen. Kontaktverbote, Betretungsverbote und in manchen Bundesländern sogar Ausgangssperren folgen. Die Straßen und Plätze leeren sich, die Menschen bleiben zu Hause, so gut es geht.
In der Arbeitswelt spielt das Thema „Homeoffice“ plötzlich eine große Rolle. Im Bereich der Schulen taucht ein ganz neuer Begriff auf: von „Homeschooling“ ist allerorts die Rede und Lehrpersonen (wie auch Schüler*innen und Eltern zu Hause) beginnen, sich in die Welt der digitalen Lösungen für den ausgefallenen Unterricht einzuarbeiten. Auch in Kindertagesstätten und Einrichtungen der Frühförderung beginnen die dort tätigen Fachkräfte, nach Möglichkeiten zu suchen, den Kontakt zu „ihren“ Kindern aufrecht zu erhalten und beispielsweise auch Materialien zu versenden. Skype und Videoclips werden zu neu entdeckten Möglichkeiten, Kontakt aufzunehmen und zu halten.
Beim Betrachten dieser beispiellosen Lebenssituation, mit der von einem Tag auf den anderen Millionen Menschen zurechtkommen müssen, wird deutlich, dass es viele unterschiedliche Ebenen, Themen und Aspekte gibt, auf die zu fokussieren und über die nachzudenken sich lohnen würde. Abseits von wirtschaftlichen, arbeits-, berufs-, gesundheits- und sonstigen politischen sowie soziologischen Aspekten soll es in diesem Text um psychologische Hintergründe gehen, die in dieser Situation bedeutsam sind. Hierbei soll ein spezifisches Thema der Psychologie in den Focus gerückt werden: die Bindungstheorie nach John Bowlby (1907-1990).
Im Bereich der Frühförderung haben die Überlegungen der Bindungstheorie bereits große Verbreitung und auch Eingang in die praktische Arbeit mit den Kindern gefunden. Auch in den Kitas und Schulen stoßen die Gedanken Bowlbys mehr und mehr auf Interesse und Lehrer*innen und Erzieher*innen erleben die Theorie als hilfreich, um das Verhalten von Kindern besser zu verstehen. Mit diesem Artikel soll eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Ideen der Bindungstheorie und ihren Implikationen für die aktuelle Situation angeregt werden.
Insbesondere soll es um folgende Fragen gehen:
Die Kapitel 1-3, die Grundlagenfragen der Bindungstheorie behandeln, finden Sie ausführlich in:
LERNEN FÖRDERN Heft 2/2020
Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes ist die Corona-Pandemie in vollem Gang. Die zeitlichen Dimensionen der Krise sind offen. Die Ausführungen und Impulse dieses Textes erreichen die Leser*innen möglicherweise zu einem Zeitpunkt, an dem es zu spät ist, um noch in der aktuellen Krise einen Nutzen zu entfalten. Doch vielleicht können manche Gedanken auch zu einem späteren Zeitpunkt – in anderen Krisensituationen oder auch in der Vorbereitung auf zukünftige Krisenszenarien – hilfreich sein und auch allgemein zu einem besseren Verständnis der Kinder in unserer Gesellschaft beitragen.
Die Grundaussagen der Bindungstheorie, die von John Bowlby (1907-1990) und Mary Ainsworth (1913-1999) entwickelt wurden, finden Sie in der Zeitschrift LERNEN FÖRDERN Heft 2/2020. Bindung wird hier beschrieben als „…ein unsichtbares emotionales Band, das zwei Menschen über Raum und Zeit sehr spezifisch miteinander verbindet.“
Beschrieben werden in der Bindungstheorie verschiedene Grundannahmen über das Bindungsverhalten von Kindern sowie die Reaktionen der Bezugspersonen auf Bindungsverhaltensweisen. Des Weiteren postulieren Bowlby und Ainsworth die Entwicklung bestimmter Bindungsmuster, die aus den Erfahrungen des Kindes mit mehr oder weniger feinfühligen Reaktionen der Bezugspersonen resultieren. Bindungs- und Explorationsverhalten als komplementäre Verhaltenssysteme werden beschrieben und der Zusammenhang hergestellt zwischen Bindung und Lernen. Die Bezugsperson als „sicherer Hafen“, die dem explorierenden Kind stets zur Verfügung steht und seine Bedürfnisse nach Sicherheit beantwortet, wird als zentrales Moment für gelingendes Lernen dargestellt.
Mit Beginn der Pandemie und Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland kam es in sehr kurzer Zeit zu drastischen Maßnahmen des „Social Distancing“. Gerade erst diskutiert, wurde binnen weniger Tage der Beschluss gefasst, Schulen, Kitas und andere Einrichtungen zur Förderung und Betreuung von Kindern zu schließen. Quasi über Nacht erreichte die Familien in ganz Deutschland und damit die Kinder und Jugendlichen in Baden-Württemberg die Nachricht, dass sie montags ihre Schulmaterialien abholen und ab Dienstag zu Hause bleiben sollten (wobei das genaue Datum sich von Bundesland zu Bundesland unterschied).
Im Folgenden soll versucht werden, den psychischen Zustand und das Erleben der Kinder in dieser Ausnahmesituation zu verstehen:
Von einem Tag auf den anderen erleben Kinder und Jugendliche, dass ihre Lehrer*innen, Erzieher*innen, Frühförder*innen etc. – neben den Eltern die wichtigsten Bindungspersonen – ebenso wie ihr gewohntes Lernumfeld plötzlich fehlen. Auch der Kontakt zu ihren Schulkamerad*innen und Freund*innen wird unterbunden. Kinder, die sich bislang darauf verlassen konnten, dass diese Menschen jeden Tag da sind, um mit ihnen den Schul- oder Kitaalltag zu bewältigen, erleben ein radikales Wegbrechen der gewohnten Welt und zentraler Bindungspersonen.
Wichtige, für eine nicht geringe Anzahl der Kinder sogar: die wichtigsten Bindungspersonen, erklären ihnen ganz plötzlich: „Ab morgen bleibt ihr zu Hause. Wir treffen uns für Wochen nicht mehr. Es ist nicht klar, wann wir uns wieder sehen werden.“
Je nach Situation war es wichtigen Bindungspersonen vielleicht überhaupt nicht möglich, mit den Kindern über das Kommende zu sprechen. So gab es sicherlich eine große Anzahl von Personen aus der Frühförderung, die ihre „Förderkinder“ oder „Spielkinder“ nicht mehr sehen konnten, bevor der Kontakt abbrach. Auch diese Personen stellen für viele Kinder wichtige Bindungspersonen und „sichere Häfen“ in ihrer Lebenswelt dar und somit brachen auch hier sichere Bindungsbeziehungen abrupt ab, ohne dass Abschied genommen werden konnte.
Zeitgleich erleben Kinder und Jugendliche, dass auch die Eltern zu Hause in hohem Maß verunsichert, vielleicht auch verängstigt und belastet auf die Gesamtsituation reagieren. Angst vor wirtschaftlicher Not, Verdienstausfall, Arbeitslosigkeit etc. erhöhen den Stress der Eltern. Gestressten Bindungspersonen gelingt es häufig nicht, auf ihre Kinder angemessen einzugehen, deren Bedürfnisse feinfühlig zu verstehen und zu beantworten (Sidor, 2018). Dass auch Eltern bestimmte Bindungsmuster verinnerlicht haben, wird in solchen Zeiten sehr bedeutsam (s. oben). Großeltern – häufig weitere wichtige Bindungspersonen – dürfen nicht mehr besucht werden. Der Kontakt zu Freundinnen und Schulkameraden ist unterbunden.
Kinder und Jugendliche finden sich also ohne Übergang– quasi über Nacht – in einer Situation wieder, in der zum einen ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt wurde und zum anderen wichtige Bindungspersonen nicht mehr erreichbar sind oder emotional nur sehr begrenzt oder gar nicht mehr zur Verfügung stehen.
Diese Lage kann auch als psychische Ausnahmesituation verstanden werden, als Belastungssituation, in der – aus bindungstheoretischer Sicht – das Explorationsverhalten eingestellt und das Bindungssystem aktiviert wird.
Genau in dieser Situation passiert in manchen Systemen nun folgendes – und dies betrifft sicherlich am ehesten die Systeme, in denen es um Lernen und um Förderung von Fähigkeiten im weitesten Sinn geht: Lehrpersonen, möglicherweise auch Personen aus dem Bereich der Frühförderung haben damit begonnen, Materialien zur Förderung „ihrer Kinder“ zusammenzustellen und ihnen diese digital oder analog zu übermitteln. Greift man beispielsweise ein einzelnes Kind aus Baden-Württemberg heraus, so bekommt dieses, wenn es noch ein Vorschulkind ist, bestenfalls nur „Übungsmaterial“ aus Kita oder Frühförderung. Als Schulkind sieht es sich aber möglicherweise mit einer Vielzahl von Aufgaben aus unterschiedlichen Fächern und von verschiedenen Fachlehrer*innen konfrontiert. Gleichzeitig mit den Kindern erreichen diese Anforderungen auch die Eltern, die sich, selbst gestresst, weil sie entweder arbeiten gehen oder im Homeoffice arbeiten müssen, plötzlich vor ganz neue Herausforderungen gestellt sehen.
Kurz zusammengefasst könnte man sagen: in einer Situation, in der das Bindungssystem von Kindern und Jugendlichen aktiviert, das Explorationssystem hingegen heruntergefahren ist, erhalten sie die Botschaft von anwesenden und nicht anwesenden Bindungspersonen: „Lerne! Kümmere dich um die Aufgaben, die du bekommen hast. Eigne dir neues Wissen, neue Fähigkeiten an.“
Wir erinnern uns an den „Kreis der Sicherheit“: befindet das Kind sich in Unsicherheit, möchte es zurück in den „Sicheren Hafen“ der Bindungsperson. Seine Bedürfnisse sind: „Beschütze mich“, „Tröste mich!“, „Freu dich an mir“, „Ordne meine Gefühle“.
In dieser, in Deutschland, Europa und der Welt beispiellosen Situation der Verunsicherung, in der das Bindungssystem (der meisten Menschen, nicht nur das der Kinder und Jugendlichen!) aktiviert ist und die eigene Sicherheit Vorrang hat, beginnen die Menschen – Lehrpersonen, Erzieher*innen etc. wie auch Eltern – eine große Aktivität zu entwickeln, nach Lösungen zu suchen und immer wieder ist die gleiche Botschaft zu hören, vor allem an Kinder und Jugendliche gerichtet: nicht innehalten, weitergehen, lernen!
Was hingegen – vor allem bei älteren Kindern – weitestgehend fehlt, ist der sichere Kontakt zu den ihnen vertrauten Bindungspersonen.
Aus Sicht der Bindungstheorie werden die Verhaltensweisen der älteren Kinder (über 2 Jahre) von den internalisierten Bindungsmustern modelliert (s. Pkt. 2).
Kinder im Vorschul- und Schulalter haben demnach – je abhängig von ihrer Beziehungserfahrungen – Bindungsmuster entwickelt, die sich auf ihr Verhalten vor allem in unsicheren Situationen auswirken (vgl. Gloger-Tippelt, 2016).
Kinder mit einem sicheren Bindungsmuster
Ein sicheres Bindungsmuster wirkt, dies zeigt sich beim Betrachten dieser Verhaltensweisen, wie ein Schutzfaktor, auch in Krisensituationen. Sicher gebundene Kinder und Jugendliche werden auch in einer Situation, in der Bindungspersonen vorübergehend nicht zur Verfügung stehen, darauf vertrauen, dass sie Hilfe und Fürsorge erhalten werden, dass sie auch in der schwierigen Situation nicht alleine sind. Sie sind in der Lage, auf „die Zeit danach“ zu vertrauen. Dementsprechend werden Kinder, die dieses Bindungsmuster verinnerlicht haben, am ehesten in der Lage sein, sich auch auf Lernanforderungen einzulassen. Auch sie benötigen aber zunächst den Schutz des „sicheren Hafens“ in der akuten Belastungssituation.
Unsicher vermeidende Kinder
Für Kinder mit dieser Bindungsrepräsentanz bedeutet eine Situation wie die der Corona Pandemie, dass sie erhöhtem Stress ausgesetzt sind und ihre Bewältigungsstrategien nur bedingt dazu geeignet sind, den Stress zu reduzieren. Sie werden in der Krisensituation ihre Gefühle unterdrücken, sich zurückziehen. Sie werden – nach außen hin unbeteiligt – hinnehmen, dass ihre Lehrer*innen, Erzieher*innen usw. nicht mehr zur Verfügung stehen und sie werden keine Kontakte einfordern. Sie werden auch von ihren zentralen Bindungspersonen keine Unterstützung einfordern, da sie nicht darauf vertrauen, Hilfe zu erhalten. Sie werden den „sicheren Hafen“ in der eigenen Autonomie suchen. Leistungsanforderungen werden sie nach Kräften ausweichen, da sie nicht das Vertrauen haben, sie zu bewältigen.
Unsicher-ambivalente Kinder
Kinder mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsmuster werden sich einerseits zurückziehen, da sie den Erwachsenen nicht trauen – andererseits werden sie unablässig nach Aufmerksamkeit suchen. Es sind diejenigen Kinder, die sehr unzufrieden wirken und gleichzeitig versuchen, mit ihrem Verhalten das Geschehen und das Verhalten der Erwachsenen zu kontrollieren. Es sind die unausgeglichenen Kinder, die immer wieder versuchen, die (vielleicht neu gesetzten) Grenzen zu überschreiten. Auf Leistungsanforderungen reagieren sie mit Widerstand, gleichzeitig versuchen sie, die Erwachsenen nah an sich zu binden und ihre Hilfe unablässig einzufordern.
Kinder mit desorganisierter Bindung
Es würde den Rahmen sprengen, hier näher auf die desorganisierte Bindung einzugehen. An dieser Stelle so viel: Desorganisiert gebundene Kinder zeigen, wie oben beschrieben, teilweise Bindungsverhaltensweisen aller Bindungstypen, darüber hinaus auch bizarre und widersprüchliche Verhaltensweisen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Gewalt- und/oder Missbrauchsbeziehungen Ursache dieses Bindungsmusters sind. Vor allem in Krisensituationen ist die Gefahr gegeben, dass psychische Störungen entstehen, die im alltäglichen, nicht therapeutischen Kontext nicht aufgefangen werden können. Es kann daher von großer Bedeutung sein, diese Bindungsrepräsentanz zu erkennen und entsprechend der Situation mögliche therapeutische Unterstützung zu suchen.
An dieser Stelle möchten wir darauf hinweisen, dass das Sonderpädagogische Beratungszentrum Neckargemünd auch weiterhin für die psychologische Unterstützung von Eltern mit Kindern im Vorschulalter zur Verfügung steht und Beratungsgespräche anbietet. Für Eltern mit Schulkindern im SBBZ Luise bietet der Psychologische Dienst vor Ort ebenfalls kontinuierlich psychologische Unterstützung an.
Der Überlegung folgend, dass Belastungssituationen aus bindungstheoretischer Sicht „unsichere Situationen“ darstellen, in denen das Bindungsverhaltenssystem aktiviert, das Explorationssystem hingegen deaktiviert ist, lassen sich Ideen entwickeln, welche Aktivitäten wichtiger Bindungspersonen in dieser Situation zielführend sein könnten. Hierbei kann es hilfreich sein, sich die Bedürfnisse zu vergegenwärtigen, die bei aktiviertem Bindungssystem vorliegen: Beschütze mich! Tröste mich! Freu dich an mir! Ordne meine Gefühle!
Handlungsimpulse
Briefe schreiben um
„…ich finde es sehr schade, dass wir uns im Moment nicht treffen können. Darüber bin ich traurig, aber manchmal auch richtig wütend – du auch?“…
„Vielen Menschen geht es im Moment genauso. Viele sind ängstlich. Unsicher. Viele sind auch traurig und manchmal auch wütend. Es ist auch langweilig, immer zu Hause zu sein. Es ist gut, wenn du diese Gefühle spürst. Es ist gut, wenn du mit deinen Eltern oder Geschwistern darüber sprechen kannst. Oder mit deinen Freundinnen und Freunden per Whats App.“….
„Wie geht es dir heute? Erzähle mir doch einmal, was du so machst in diesen Tagen. Was klappt gut? Was freut dich? Wie vertreibst du dir die Zeit?“…
„Mir geht es gut, aber es fehlt mir, jeden Tag mit Euch Kindern zusammen zu sein. Ich gehe oft spazieren, das hilft mir. Auch mache ich zu Hause Sport und tanze, dann geht es mir besser. Ich rede viel mit meiner Familie, dann fühle ich mich nicht so allein.“…
Dies alles geht auch mit Kindern, die noch nicht lesen können. Man kann in Bildern sprechen, man kann die Eltern bitten, vorzulesen.
Telefonieren, um
Telefonate können Impulse „kurz zwischendurch“ sein. Kleine Erinnerungen, vielleicht bei jedem*r Schüler*, jedem Frühförderkind ein bis zweimal pro Woche, um zu trösten, um zu sagen: Ich bin noch da. Ich werde auch morgen noch da sein.
Um dem Bedürfnis „Ordne meine Gefühle“ Raum zu geben, könnten Geschichten, Filme, Erklärvideos hilfreich sein, die die aktuelle Situation zu Thema machen – vielleicht auch per Video gesendet.
Kontakt zu den Eltern
Der Kontakt zu den Eltern kann – ausgehend vom oben beschriebenen Kontakt mit den Kindern – ganz ähnlich gestaltet werden. Wenn wir verstehen, dass auch die Eltern verunsichert und gestresst sind, macht es Sinn, ihnen auf der Basis dieser Gefühle zu begegnen, Verständnis zu signalisieren und deutlich zu machen, dass die Bindungspersonen „draußen“ weiterhin da sind, auch für die Fragen der Eltern. Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, den Eltern Verständnishilfen für die Situation der Kinder anzubieten (Psychoedukation) und ihnen Handlungsimpulse und -ideen zu geben.
Ideen für die Teams in den Einrichtungen
Gute Absprachen und Koordination aller Maßnahmen in der Einrichtung
Vor allem für Bindungspersonen von Schulkindern gilt: Erklären Sie ihren Kindern, warum es notwendig und auch gut sein könnte, in der Zeit zu Hause Schulaufgaben zu erledigen. Hilfreich wäre eine „sichere Basis“ für jede Klasse: eine Lehrperson, die für die Kinder einer Klasse zuständig ist und die alle Aufgaben der verschiedenen Lehrkräfte sichtet, koordiniert und weitergibt. Die den Kontakt zu den einzelnen Kindern hält, die dafür sorgt, dass die Kinder und Jugendlichen nicht mit Anforderungen überhäuft werden. Die versteht, dass Bindung in dieser Situation vor Exploration geht.
Impuls
Hilfreich kann es in einer Situation wie der aktuellen – vor allem zu Beginn – sein, zunächst einmal innezuhalten. Sich gemeinsam in der Einrichtung auf die Situation zu besinnen, die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten wahrzunehmen und zu thematisieren, kurz: sich selbst zu „sichern“ um von dieser Basis ausgehend die weiteren Schritte zu planen.
Gerade in einer Situation, in der vermeintlich „schnelles Handeln“ geboten scheint, könnte es besonders wichtig sein, sich diesen Moment des Innehaltens zu nehmen, um die Zeit zu haben, wahrzunehmen und zu spüren, was das eigentlich Notwendige ist, das in Bezug auf die uns anvertrauten Familien zu tun ist.
Achtsam die eigenen Gefühle wahrzunehmen und sich im Kreis der Kolleg*innen darüber auszutauschen kann auch dazu führen, dass alle sich bewusst werden, unter welch enormen Druck sie als Lehrpersonen vielleicht stehen – zum Beispiel, den Lehrplan zu erfüllen, Prüfungen abzunehmen, Noten zu schreiben. Das bewusste Wahrnehmen dieser Gefühle kann der erste Schritt eines bewussten Umgangs damit sein. Krisenmanagement kann dann mit „kühlem Kopf“ geplant und durchgeführt werden.
Überlegungen zur Rückkehr in die Normalität: Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Bindungsrepräsentationen.
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: die Rückkehr in den Alltag, wie wir ihn bisher kannten, wird kommen. Auch diese Rückkehr wird für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Bindungsmustern etwas Besonderes sein – ganz ähnlich wie in den Untersuchungen von Ainsworth, wenn die Mütter in die „fremde Situation“ zurückkamen (s. Pkt. 2).
Welche Haltungen und Verhaltensweisen der Bindungspersonen könnten hier – wieder unter Berücksichtigung der drei verschiedenen Bindungsrepräsentationen – hilfreich sein?
Sicher gebundene Kinder
Kinder mit sicherer Bindungsrepräsentanz werden den Lehrer*innen, Erzieher*innen, Frühförder*innen etc. die Rückkehr in den Alltag leicht machen: sie werden sich freuen, wieder da zu sein. Sie werden darauf vertrauen, dass alles wieder „gut“ ist. Es wird hilfreich sein, mit ihnen über die vergangenen Wochen zu sprechen und im Gespräch die Gefühle zu verarbeiten. Dies wird gut gelingen, und die normale „Arbeit“ kann weitergehen.
Unsicher gebundene Kinder
Ausgehend von dem Wissen, wie diese Kinder in unsicheren Situationen wie auch bei der Rückkehr der Bezugspersonen reagieren, lassen sich folgende Anregungen zum Umgang geben:
Unsicher-vermeidend gebundene Kinder
Unsicher-ambivalent gebundene Kinder
Die feinfühlige Interpretation und Beantwortung der Signale des Kindes – ein „gutes Bindungsangebot“ – stellt hier die wichtigste Basis für ein gutes „Wieder-Zusammenfinden“ von Kindern und ihren Bindungspersonen dar.
Zwei Aspekte sollten im vorliegenden Text thematisiert und in einen Zusammenhang gebracht werden:
Die Corona Pandemie im Frühjahr 2020 zum Einen: sie stellt für Kinder, Jugendliche aber auch Erwachsene eine nie dagewesene, verunsichernde und bedrohliche Situation dar, in der zunächst nicht auf bekannte Strategien und Handlungspläne zurückgegriffen werden kann.
Zum Zweiten die Bindungstheorie nach Bowlby. Das Bindungssystem als eines der frühesten Verhaltenssysteme im Leben des Menschen, das für den Aufbau von Beziehung und somit für das Überleben des Säuglings sorgt, wurde dargestellt. Verdeutlicht wurde die antagonistische Beziehung zwischen Bindung und Exploration und damit die Bedeutung einer sicheren Bindung für das Lernen.
Ziel dieses Textes ist es, das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in Krisensituationen vor dem Hintergrund des Wissens um Bindung besser verstehen und einordnen zu können. Besser zu verstehen, was das jeweilige Verhalten beeinflusst, vor allem das Verhalten in Ausnahmesituationen, kann eine wichtige Grundlage sein für die Entwicklung eines (zukünftigen) Krisenmanagements, das Kinder, Jugendliche, aber auch ihre Eltern dort erreicht, wo sie stehen.
Nicht zuletzt kann dieses Verständnis auch in ganz „normalen“ Krisen, in Mikrosituationen im Alltag eine wertvolle Orientierungshilfe für all diejenigen sein, die wichtige Bindungspersonen für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen sind.
Sibylle Stumpf, im April 2020
Bowlby, J. (2018): Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. Ernst Reinhardt Verlag
Brisch, K.H. (2018): SAFE, Sichere Ausbildung für Eltern. Klett-Cotta
Grossmann, K. und Grossmann, K.E. (2020): Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Klett-Cotta
Gloger-Tippelt, G. und König, L. (2016): Bindung in der mittleren Kindheit. Das Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung 5 bis 8jähriger Kinder. Beltz
Jungmann, T. und Reichenbach, C. (2016): Bindungstheorie und pädagogisches Handeln. Borgmann Media
Schleiffer, R. (2016): Lernen und Bindung im Kindesalter. Verfügbar unter
https://www.kitafachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen//KiTaFT_Schleiffer_LernenundBindung_2016.pdf
Sidor, A. et.al. (2018): Einfluss der sozioökonomischen Risikobelastung auf mütterliche Feinfühligkeit, Stressbelastung und Familienfunktionalität. In: Praxis der Kinderpsychotherapie und Kinderpsychiatrie, 2018, 67 (3), 257-273